Diese Breite der Aktivitäten in jedem einzelnen Projekt zeigt, dass in der Solidarischen Ökonomie undogmatisch und auf breiter Basis Alternativen entwickelt werden.
Ein weiterer bemerkenswerter Aspekt betrifft die große Bedeutung von Gemeinschaft innerhalb der Solidarischen Ökonomie. Der Wunsch nach Gemeinschaft ist – wenn auch indirekt – eines der am stärksten hervortretenden Motive der AkteurInnen im Feld. In den meisten Fällen kommen die Beteiligten über die wirtschaftlichen Aktivitäten zu den Projekten – was sie jedoch dort hält sind die sozialen Beziehungen und das Gefühl der Zugehörigkeit.
Die dritte besondere Eigenschaft der Solidarischen Ökonomie in Griechenland ist: ihre Integrationskraft. Die Zusammenführung von Wirtschaft, Politik und Gemeinschaft ist eine große Herausforderung und eine Leistung mit besonderem transformatorischen Potenzial.
Die Geschichte hat gezeigt, dass Projekte alternativen Wirtschaftens oft nicht über Krisenzeiten hinaus bestehen konnten, wenn sie primär der Selbsthilfe dienten. Ich habe in der Analyse versucht zu beschreiben und abzuwägen, welchen Stellenwert das Element der Selbsthilfe (und das der Transformation) in der Solidarischen Ökonomie in Griechenland einnimmt. Eine erste Differenzierung betrifft die Form der Selbsthilfe: Mit Hilfe der Solidarischen Ökonomie findet nicht nur materielle, sondern auch immaterielle (psychologische, soziale) Selbsthilfe statt, und diese Selbsthilfe ist dabei immer kollektiv. Mit der zunehmenden Verschärfung der Krise gewinnt der Aspekt der Krisenbewältigung innerhalb der Projekte an Bedeutung. Meine Einschätzung ist dennoch die, dass die Krisenbewältigung und die Selbsthilfe in den Motiven für die Projekte und deren Potenzialen nach wie vor nicht dominieren. In keinem der von mir besuchten Projekte können die Beteiligten durch die Mitarbeit oder Teilnahme ihren Lebensunterhalt bestreiten – und nur ein Projekt hat dies überhaupt zum Ziel. Viele Initiativen leisten einen Beitrag zur Befriedigung ungedeckter materieller Bedürfnisse, dies geht aber selten so weit, dass dieser Aspekt
der bestimmende ist.
Solidarische Ökonomie ist also in Griechenland auch Selbsthilfe, sie ist jedoch und vor allem viel mehr. Über die kollektiven Identitäten, die Emanzipation und Aneignung, den Wertewandel, die Bildung neuer Beziehungen und die Entstehung von Solidarität, die Inspiration und schließlich die Integration von Wirtschaft und anderen Lebensbereichen trägt die Solidarische Ökonomie ein transformatives Potenzial in sich.
Wie auch die Frage nach dem Bestehen über die Krise hinaus kann der Beitrag des Feldes zur Transformation erst im Nachhinein beurteilt werden. Auch wenn ich die Selbsthilfe häufig der Transformation gegenüberstelle, so sind diese beiden Potenziale keine Gegensätze. Kollektive Selbsthilfe kann Solidarität und kollektive Identitäten hervorbringen, welche wiederum über die konkrete Situation hinausgehen und transformatives Potenzial haben. Und auch die Transformation, die Veränderung bestimmter Lebensbereiche, kann einzelnen Beteiligten helfen, ihre materiellen und immateriellen Bedürfnisse zu befriedigen.
Viele meiner InterviewpartnerInnen sind jedenfalls fest vom transformativen Potenzial ihrer Projekte überzeugt und äußeren den Wunsch, gemeinsam den Wandel in Bewegung zu setzen. Sie wollen über ihr konkretes Tun neue alternative Wege aufzeigen und so zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragen. Oder wie es ein Interviewpartner ausdrückt:
„Wenn man nicht experimentiert, wenn man nicht versucht eine andere Art
zu Leben zu finden, und man einfach erwartet, dass etwas von hoch oben
herab kommt, dann wird es nie passieren.“
Lisa Mittendrein
(leicht überarbeitetes Kapitel aus dem Buch)
Lisa Mittendrein
Solidarität ist alles, was uns bleibt
Solidarische Ökonomie in der griechischen Krise
AG SPAK Bücher I ISBN 978-3-940865-55-7 I 2013 I 208 Seiten I 16 €