Bunte Einwohner von Riace - Quelle: Il Sole 24ore
Der Bürgermeister, der andere Wege geht. Quelle: http://www.famigliacristiana.it

In einer Nacht des Jahres 1998 wurde ein altersschwacher Segelschiff gegen die Ostküste Kalabriens getrieben und steckte zwischen den Felsen fest. „Er stand da mit herunterhängenden Segeln, hin- und her gestoßen von den Wellen und wartete darauf, dass unser Schicksal eine Wende nehmen würde“ – erinnert sich Domenico Luciano, der Bürgermeister von Riace, ein kleiner Ort nahe der Küste des jonischen Meeres, der damals 500 Einwohner zählte - aktuell sind es ca. 1700 Personen.
„Man wusste nicht wohin mit den verzweifelten Leuten und ich hatte eine verrückte Idee: sie in die unbewohnten Häusern im alten Ortskern unterzubringen. Es gab jede Menge Platz, schließlich handelte es sich um alte, halb verfallene Gemäuer, in denen seit Jahrzehnten die Stille herrschte. Alle dachten, ich sei verrückt geworden und fingen an, mich den Bürgermeister der Kurden zu nennen.“

Denn mit dem Segelschiff waren kurdische Flüchtlinge aus Irak und der Türkei an der jonischen Küste Kalabriens gestrandet.

Aber die Sache funktionierte. Alles änderte sich: der alte, unbewohnte Ortskern fing an, sich wieder mit Leben zu füllen, von dem alten Gemäuern erschallten neue Stimmen.

Mit der Zeit wurde Riace Ankunft- und Durchgangsort verschiedener Ethnien und Völker: Kurden, Afghanen, Palästinenser, Senegalesen, Eritreer, Iraker, Serben, Libanese und viele andere Nationalitäten sind im Rahmen verschiedener Programme des früheren italienischen Innenministeriums für die Aufnahme und die Unterbringung von Flüchtlingen, an denen sich die Gemeinde Riaci beteiligte, eine Zeitlang in Riace untergebracht worden.

Fünfhundert Flüchtlinge sind bisher geblieben und haben dem Örtchen geholfen, mikroökonomische Aktivitäten zu entfalten, vor allem im handwerklichen Bereich.

Eine Keramikwerkstatt und eine Weberei sind entstanden, ein Cafe, eine Bäckerei, ein Laden für afghanisches Kunsthandwerk. Die Grundschule wurde nicht geschlossen, dazu  kam eine Kita. Das System der Mülltrennung ist wieder eingeführt worden,  mit zwei Eseln, die die steilen Gassen des am Berghang gebauten Ortes bewältigen.

Lucano in einem 2011 veröffentlichen Video: “ Die Aufnahme von Menschen hat für diesen Ort bedeutet, nicht nur ein gegenseitiges Kennenlernen und mehr soziale Kohäsion, sondern auch Hoffnung für die Zukunft, so dass junge Leute entscheiden können, hier bei uns zu bleiben und ihre Zukunft hier zu erfinden.  Die Politik der Aufnahme von Flüchtlingen hat 40 Arbeitsplätze für die Einheimischen geschaffen. Selbst wenn diese befristet sind, weil sie von Maßnahmen des Ministeriums abhängen, sind das 40 Auswanderer weniger.“

Da die Gelder vom Innenministerium immer mit Verspätung eintreffen, ersann Luciano eine örtliche Tauschwährung, damit die Migranten in den örtlichen Geschäften einkaufen können, was sie brauchen. Die Geschäftsleute können dann die Gutscheine gegen Euro umtauschen. Auch Touristen aus anderen Teilen Italiens kommen inzwischen im Sommer nach Riace, auch bewusst um das „System Riace“ zu unterstützen. Sie werden ebenfalls in den wieder instand gesetzten alten Häusern des Ortskerns untergebracht und können ihre Euros in Gutscheine umtauschen, womit sie beim Einkaufen in den örtlichen Geschäften 20 % Rabatt bekommen.

Von April bis Juni besuchen Schulklassen das quirlige Dorf. Sie kommen aus nahen und fernen Städten, einige sogar aus Norditalien.

Aber der mutige Bürgermeister, der an eine Welt ohne Grenzen und ohne Mafia  glaubt, hat auch Feinde in Italien.

Als erste meldete sich die ‘Ndrangheta, die kalabrische Mafia, die ihr Hauptquartier wenige Kilometer von Riace entfernt hat: im Gebiet um Locri, die Locride.

Sie versuchten, den Bürgermeister einzuschüchtern, indem sie unweit von seinem Haus seine zwei Hunde vergiftete, die sein Sohn besonders liebte. Dann fielen Schüsse gegen die Tür des vom Bürgermeister mitgegründeten Vereins „Città futura“, der sich um die Integration der Flüchtlinge kümmert. Auf Anraten eins Mannes aus Montevideo, der gerade in Riace war, wurden die Einschusslöcher in der Glastür nicht beseitigt, sondern in ein fröhliches, buntes Kunstwerk integriert, das auf der Tür und den angrenzenden Mauern gemalt wurde – als Zeichen der Hoffnung.

Inzwischen weht im Innenministeriums ein ganz anderer Wind.
„Seit über einem Jahr haben das Innenministerium und die Präfektur die Gelder eingefroren, die für die Gemeinde Riace bestimmt waren“,  schreibt die Zeitung Il Sole 24 ore  am 4. Juni 2018.

Das Innenministerium erkennt die Gutscheine von Riace nicht mehr an und auch nicht die Arbeits-Stipendien – im Wert von 35 € pro Tag und Flüchtling, die vom Staat für die Eingliederung von Flüchtlingen bezahlt werden -  mit deren Hilfe die Flüchtlinge bisher einen Beruf erlernen konnten.

Innenminister Salvini versprach  in einem Video, das sich seit Juni 2018 in den social media viral verbreitet, bald die Locride zu besuchen. Allerdings verschwende er keinen Gedanken auf den Bürgermeister von Riace; dieser sei für ihn eine Null.

 „Es stimmt, dass ich zur Klasse der Letzten gehöre, praktisch eine Null – kam prompt die Replik des Bürgermeisters  – In all den Jahren haben wir unsere Schwäche mit der von vielen Verzweifelten aus allen Teilen der Welt vereint. Wir haben den Traum einer neuen Menschheit geteilt, frei von Mafia, Rassismus, Faschismus und von Ungerechtigkeit“.

Der örtliche Supermarkt und die Apotheke akzeptieren allerdings weiter die sozialen Gutscheine, obwohl der Umtausch nicht mehr gesichert ist. Auch die Ärzte betreiben die Ambulanz weiter.

Der Präsident der Region Kalabrien Mario Oliverio hat sich schützend vor Riace gestellt. „Ich lade Matteo Salvini ein, Riace zu besuchen. Bevor er Urteile fällt, soll der Innenminister die Realität kennenlernen –erklärte er - Ich stehe hier, seit immer an der Seite von Lucano, um zu zeigen, dass dies das Land der Aufnahme von Schutzsuchenden und der Legalität ist“.

Die ANBSC, die nationale Agentur für die Verwaltung der von der Mafia beschlagnahmten Güter,  hat der Gemeinde Riace acht Immobilien anvertraut, die einem zu lebenslanger Haft verurteilten Boss der ‘Ndrangheta beschlagnahmt wurden. Es handelt sich um einige Einfamilienhäuser und eine Gaststätte mit Wohnungen im Obergeschoss an der Seepromenade.

Was wird Domenico Lucano daraus machen?

Ein Aufnahmezentrum für Schutzsuchende, selbstverständlich, und eine Jugendherberge, um seine Idee einer offenen, ethischen,  multiethnischen Gemeinschaft zu stärken.

Der Bürgermeister plant auch ein Museum und einen „Park der pluralen Bürgerschaft“ am Meer, mit typischen Bäumen und Pflanzen der Herkunftsländer der Geflüchteten. Dazu  neue Genossenschaften, die die neuen Einrichtungen verwalten sollen.

 Aus dem Italienischen von Giuliana Giorgi

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Quellen:

Artikel in „Famiglia Cristiana“ vom 3.04.2017:  http://www.famigliacristiana.it/articolo/il-sindaco-del-comune-dell-integrazione.aspx

Homepage des Vereins „Riace Città Futura“ mit einem Video mit deutschen Untertiteln:

https://www.riacecittafutura.org/riace-statement-domenico-lucano-burgermeister/

Onlineportal der Zeitung „Il Sole 24ore“ vom 4. Juni 2018:

http://www.repubblica.it/cronaca/2018/06/02/news/migranti_botta_risposta_salvini_sindaco_riace-198004716/

http://www.ilsole24ore.com/art/impresa-e-territori/2018-06-04/migranti-riace-invita-salvini-venga-vedere-dove-l-integrazione-funziona-202052.shtml?uuid=AE42dR0E

Video des Journalisten Giorgio Simonetti, veröffentlicht 2011, mit deutschen Untertiteln:

https:/youtu.be/iJ6rN_urFcg


Fr. 27. bis So. 29. Juli 2018:

Wochenendseminar im Frauenbildungshaus Zülpich

Im Alltag selbstorganisierter Gruppen stehen die gemeinsamen Ziele und die Inhalte der Zusammenarbeit im Mittelpunkt. Die Aufmerksamkeit der Beteiligten richtet sich darauf, WAS sie miteinander tun. Für das Gelingen der Kooperation ist jedoch auch das WIE von entscheidender Bedeutung.

Neben inhaltlichen Inputs gibt es am Wochenende Raum zum thematischen und persönlichen Austausch zwischen den Teilnehmerinnen, wobei nach und nach ein Werkzeugkasten mit Ideen und Instrumenten für ein gelingendes Miteinander gefüllt wird.

Das Seminar richtet sich an alle interessierten Frauen, die sich mit Fragen der Kommunikation und Kooperation in selbstorganisierten Gruppen beschäftigen möchten. Eigene Erfahrungen können gerne eingebracht werden – aber das ist keine Teilnahmevoraussetzung.

Referentin Elisabeth Voß, Jg. 1955, Dipl. Betriebswirtin (FH), freiberufliche Publizistin, beschäftigt sich seit Jahrzehnten theoretisch und praktisch mit Ideen und Praxen alternativer, genossenschaftlicher, sozialer und solidarischer Wirtschaftsweisen.

Weiterlesen: Wie kann das Miteinander in Gruppen und Projekten gelingen?

Information und Anmeldung:

https://www.frauenbildungshaus-zuelpich.de/alle-veranstaltungen.html?view=event&id=1125

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Solidarisch Wirtschaften für eine Welt ohne Grenzen
Tel.: 0049 - (0)30 - 216 91 05 (AB)
www.elisabeth-voss.de

Die Sommerschule 2018 findet vom 29. 07. bis 02. 08 statt. Nach drei Jahren im Rheinland geht es nun nach Pödelwitz bei Leipzig. Dort wird die Sommerschule auf dem Klimacamp Leipziger Land zu Gast sein. Die Sommerschule wird in Zusammenarbeit mit Aktiven aus der Region organisiert, deren Dörfer durch die Braunkohle bedroht sind. Eins dieser Dörfer ist Pödelwitz. Gemeinsam mit den Menschen vor Ort sollen im Rahmen der Sommerschule Perspektiven für eine Welt, in der ein gutes Leben für alle möglich wird, entwickelt werden.

https://www.degrowth.info/de/sommerschule-2018/

 
Reichtum und Privilegien werden, so Fabian Scheidler, heute nicht in erster Linie durch Markterfolge gesichert, sondern durch verschiedene Formen von „Tributzahlungen“. Dazu gehört zum einen ein Dickicht aus steuerfinanzierten Subventionen für die destruktivsten Branchen der Erde, darunter die Erdöl- und Kohleindustrie, das Großbankensystem, die Auto- und Flugzeugbranche sowie die Rüstungsindustrie. Allein die fossile Energiebranche wird laut Internationaler Energieagentur jährlich mit rund 500 Milliarden US-Dolllar gefördert, der IWF kommt sogar auf fünf Billionen Dollar. Das Großbankensystem in Europa und Nordamerika wäre ohne billionenschwere Bankenrettungen längst bankrott. Auch Steuerflucht und Steuervermeidung, die von den meisten EU-Staaten - allen Lippenbekenntnissen zum Trotz - noch immer geduldet oder gar gefördert wird, muss als eine Form der Subvention betrachtet werden. 
Die zweite Säule der Tributökonomie beruht auf leistungslosen Einkommen aus Eigentumsrechten, etwa aus dem Immobiliensektor und Patenten. Dass Menschen in deutschen Ballungsräumen wie Berlin, Hamburg oder München inzwischen die Hälfte ihres Einkommens für überzogene Mieten ausgeben müssen, ist die Folge eines gewaltigen Umverteilungsmechanismus, der Einkommen aus den unteren und mittleren Schichten zu den Immobilienbesitzern kanalisiert. 
Die dritte Säule beruht auf Aneignung durch Schulden. Der Fall Griechenland zeigt exemplarisch, wie Schuldnerstaaten erpresst werden, um öffentliche Infrastrukturen zu privatisieren.
"Das globale Tributsystem“, schreibt Fabian Scheidler, "funktioniert nur, weil gewählte Regierungen unsere Steuergelder über unzählige offene und versteckte Wege in die Hände der reichsten ein Prozent kanalisieren und uns am Ende einreden, das Ganze beruhe auf ‚Markterfolgen'. Der erste Schritt zur Überwindung dieses Systems besteht darin, es ans Licht der Öffentlichkeit zu ziehen, seine Legitimität zu bestreiten und es zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen zu machen. In einer größeren Perspektive geht es darum, mit der Trennung von Staat und Kapital endlich ernst zu machen. Eine solche Trennung würde enorme Freiräume für andere, zukunftsfähigere Wirtschaftsformen schaffen."
Terminhinweise:
- Am 12.4.18 wurd ein Beitrag mit Fabian Scheidler in der Fernsehsendung Scobel auf 3Sat gezeigt. Das Thema der ganzen Sendung ist "Marx heute", das Thema des Beitrags "Entfemdung im digitalen Zeitalter“. Beginn 21 Uhr. Ebenfalls in der Sendung dabei: Ulrike Herrmann und Christian Felber: http://www.3sat.de/page/?source=/scobel/196664/index.html
 
- Am 2.5. um 19 Uhr spricht Fabian Scheidler im Audimax der Universität Freiburg (i. Br.) über "Das Ende der Megamaschine und Wege zu einer sozial-ökologischen Ökonomie“: