Rolf Schwendter ist am Sonntag 21.7.2013 gestorben

Ein großer Unorthodoxer hat uns verlassen

Von Gerald Jatzek, Wiener Zeitung 22.7.2013

Er war akademischer Anarchist mit barockem Wissensdrang.


 
Rolf Schwendter 2012 auf dem Volksstimmefest in Wien.
Quelle: Literaturgeflüster
 

Rolf Schwendter, Sozialwissenschaftler, Autor, Organisator, Genießer und prinzipiell Unorthodoxer, ist am Sonntagabend im Alter von 73 Jahren gestorben. Das gab das von Schwendter mitgegründete Erste Wiener Lesetheater auf Facebook bekannt.

Schwendter war so etwas wie ein wandelnder Widerspruch, der sich selbst immer wieder kreativ auflöste. Er war dreifacher Doktor und provozierend krähender Trommler, er schrieb Katertotenlieder und wissenschaftliche Abhandlungen, er brachte ständig jede Menge Leute zu Aktionen zusammen und verweigerte moderne Technologien weitgehend.

Schwendter wurde 1939 in Wien als Rudolf Scheßwendter geboren und wuchs zweisprachig (ungarisch, deutsch) auf. An der Universität Wien erwarb er bis 1968 drei Doktorate und organisierte die so genannte informelle Gruppe zu Wissenschaft und Kunst, die sich im konservativ-katholischen Österreich - bisweilen durchaus im Wortsinn - Freiräume schaffte und mit internationalen Strömungen auseinandersetzte.

Als Sänger und Liedermacher setzte er auf eine Antiästhetik, die sich den vertrauten Hörgewohnheiten entziehen sollte, um die notwendige Aufmerksamkeit zu erzielen. Der deutsche Musiker Carl-Ludwig Reichert nannte ihn einmal den "Urvater der SpokenWordundSoloAcapellaDrumwithoutbassBewegung ". Mit den Wiener Mitstreitern Joe Berger und Otto Kobalek wirbelte er in der Folge das Waldeck-Festival durcheinander, auf dem musikalische Traditionsbewahrer und dogmatische Linke, also zwei orthodoxe Gruppen, aufeinandertrafen.

Mit Liedern zur Trommel machte sich Schwendter Luft.
 Mit Liedern zur Trommel machte sich Schwendter Luft - Foto von Franz Will, aufgenommen im April 1987 im Café Ruffini (München)

Seine Rolle als Professor für Devianzforschung an der Universität Kassel erklärte Rolf Schwendter gerne mit einem prägnanten Satz: "Ich lehre meine Studenten abweichendes Verhalten." Die Berufung an die Hochschule erfolgte 1975. Vier Jahre davor war der Band "Theorie der Subkultur" erschienen, in dem er Randgruppen und ihre Organisationsformen, Werte und Rituale darstellt und auf ihr Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft untersucht. Anhand der Positionen zu Herrschaftsstrukturen und deren möglicher Überwindung unterscheidet Schwendter progressive von regressiven Subkulturen, als deren negative Utopie er das Führerprinzip herausarbeitet. Er entwickelte damit im Alleingang eine Methodologie, die in den Grundzügen den Arbeiten des berühmten  Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) in Birmingham entsprach.

Die Analyse war für Schwendter, so sehr er sich an theoretischen Spitzfindigkeiten erfreuen konnte, aber nie Selbstzweck. Ihr Ziel war immer, den Weg vom Noch-Nicht-Sein (Ernst Bloch) zum Sein zu finden. Dafür ist jedenfalls auch die Analyse der eigenen Geschichte notwendig, mit der sich Schwendter etwa in zwei Bänden "Zur Geschichte der Zukunft" auseinandersetzte.

Die Verweigerung der Anpassung drückte Schwendter auch in seiner Kleidung und Besitz aus. Wenn er Wien war, und das war außerhalb der Universitätszeiten meistens, saß er stundenlang im Café Weidinger, umgeben von unzähligen Zetteln mit Notizen, die den Tisch bedeckten, aus den Taschen des abgetragenen Sakkos quollen und mehrere Einkaufssackerln füllten. Themen konnten zeigenössische Spielarten des Anarchismus, das Verhältnis von Sexualität und Literatur, Antipsychiatrie, aber auch Verhaltensweisen von Katzen sein.

Dieser Verzicht auf Repräsentation führte bisweilen zu komischen Situationen. Bei einem Club 2 zum Thema "Sandler" hielt ihn der Bezirksvorsteher der Inneren Stadt denn auch für einen Obdachlosen und den im Anzug erschienenen Obdachlosen für den Uniprofessor.

1990 gründete er gemeinsam mit Freunden wie Manfred Chobot, Ottwald John und Brigitte Gutenbrunner das "Erste Wiener Lese- und zweites Stegreiftheater", eine lockere Gemeinschaft von Theaterinteressierten, die seither rund 1500 Veranstaltungen, darunter auch Chansonabende und einen Marathon mit dem vollständigen Text von James Joyces "Ulysses" durchführte. Schwendter befand sich stets im Mittelpunkt dieses vielfältigen Zusammenschlusses. Für den unvoreingenommenen Betrachter sorgte er in schöner Widersprüchlichkeit als antiautoitärer Patriarch - nein, nicht für Ordnung, sondern für so etwas wie ein strukturiertes Chaos.

Darüber hinaus engagierte sich Rolf Schwendter in der Grazer Autorenversammlung, deren Präsident er seit 2006 war, verfasste als leidenschaftliche Esser eine Sozialgeschichte der europäischen Gastronomie und lud alljährlich zum Katzenkarneval.

Wenn ein Weiterleben im materialistischen Sinne im Fortbestehen von weitergegebenem Wissen besteht, so lässt sich sagen: Mit seinen Ideen wird Rolf Schwendter noch viele Jahre unter uns weilen.