Graue Genossen

Ingeborg Schaak (61) mag ältere Menschen. Ihre Eltern leben nicht mehr, die Tochter ist aus dem Haus. Sie hat Zeit. „Als ich in der Lokalzeitung gelesen habe, dass Fahrer gesucht werden, die Senioren zur Tagespflege bringen, war ich sofort dabei“, sagt sie. Viermal pro Woche chauffiert sie seitdem zwölf ältere Herrschaften morgens und nachmittags durch Riedlingen. Zeit für ein kleines Schwätzchen bleibt immer, und manchmal dreht sie auch eine Extrarunde zur Apotheke oder zum Einkaufen.
Ingeborg Schaak ist eine von 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Seniorengenossenschaft. Wer im Raum Riedlingen auf fremde Hilfe angewiesen ist, kann Unterstützung bekommen von Frauen und Männern, die nicht mehr berufstätig, aber noch fit und rüstig sind. Dafür bezahlt oder bekommt man ein kleines Entgelt. Die Helfer haben auch wahlweise die Möglichkeit, ein Stundenkonto anzusparen, das sie abrufen können, wenn sie später selbst einmal Hilfe brauchen.
Man muss aber nicht unbedingt Senior sein, um mitzumachen. Unter den Helferinnen in der Tagespflege sind auch Frauen, die nach der Babypause schrittweise wieder in einen Job zurückkehren möchten. Neben zwei Fachkräften sind es diese ehrenamtlichen Helferinnen, die die Gäste mit viel Herzblut und Engagement betreuen und so deren pflegende Angehörige entlasten. Dazu hat die Seniorengenossenschaft freundliche, großzügige Räumlichkeiten angemietet und den Bedürfnissen der Senioren entsprechend eingerichtet. Direkt nebenan baute ein Investor im Auftrag der Initiative barrierefreie Wohnungen, in die einziehen kann, wer über 60 Jahre alt oder pflegebedürftig ist. „Die Nachfrage nach solchem Wohnraum ist enorm“, sagt Josef Martin, Vorsitzender der Riedlinger Seniorengenossenschaft. „Wir bekommen sogar Anfragen aus dem ganzen Bundesgebiet, aber leider sind wir komplett ausgebucht.“ Die Seniorengenossenschaft plant, in der Innenstadt weiteren, leer stehenden Altbau-Raum barrierefrei umzubauen. Das hat auch den Vorteil, dass die späteren Bewohner direkt in der City leben und so lange wie möglich am „normalen“ Leben teilhaben können.

„Als wir 1991 mit der Arbeit anfingen, waren Seniorengenossenschaften absolutes Neuland“, sagt Josef Martin. Schon vor 18 Jahren zeichnete sich in der ländlichen Region ein Trend ab, der bis heute anhält: Die junge Generation wandert auf der Suche nach Arbeit ab, und die Elterngeneration bleibt zurück. Für Josef Martin und seine Mitstreiter war das der Grund, die Selbsthilfeinitiative zu starten, die bis heute ihren Vorbildcharakter für andere Seniorengenossenschaften in Deutschland behalten hat.
Zunächst machten sie eine Umfrage, um zu klären, welchen Bedarf es gab. Dann entwickelten sie Angebote, warben Mitglieder an und fingen an zu arbeiten. Die Seniorengenossenschaft Riedlingen bietet heute eine Tages- und eine Demenzpflege, Betreutes Wohnen, Essen auf Rädern, Fahrdienste und Hilfen im und rund ums Haus an. Sie vermietet Wohnungen, hat eine Telefonbereitschaft für Notfälle eingerichtet und hilft ihren Mitgliedern beim Ausfüllen von Formularen oder bei Behördengängen. Relativ neu ist das Kooperationsprojekt mit der Volkshochschule „Hilfen beim Umgang mit dem Computer“, denn eMails und Internet werden für viele alte Menschen immer wichtiger, um mit Freunden und der Familie in Kontakt zu bleiben. Die Initiative ist zwar ein eintragener Verein, aber wie ihr Name „Riedlinger Seniorengenossenschaft e.V.“ schon sagt, fühlen sich die Mitglieder dem genossenschaftlichen Gedanken verpflichtet: „Genossenschaften sind immer entstanden, um sich in schwierigen Situationen gegenseitig zu helfen“, sagt Josef Martin. „Das gilt auch für uns: Wer kann, arbeitet mit an der Versorgung anderer.“

Damit das Ganze finanzierbar bleibt, sind die Helferinnen und Helfer als Minijobber tätig. Für jede Hilfe, gleich welcher Art, zahlt man 8,20 Euro pro Stunde, von denen 6,15 an den Helfer oder die Helferin gehen. Vom Rest finanziert sich die Seniorengenossenschaft selbst. „Wenn man sich die demografische Entwicklung im Land anguckt, dann fragt man sich, warum Länder und Kommunen nicht stärker in das Thema einsteigen“, sagt Josef Martin. Im schwäbischen Riedlingen jedenfalls hat man vorgesorgt.

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aus: Aktion Mensch Das Magazin 2.2009